Zur Ausstellung „Infinity“ von Ernst-Martin Heel

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    vor einem Jahr lud Ernst-Martin Heel uns hier ein, in seinen Werken durch äußere und innere Räume zu reisen, heute fordert er uns auf, mit ihm die Unendlichkeit zu erkunden.

    Wie gelingt es dem Künstler, die Entgrenzung zu fassen, wie sie im Rahmen beschränkter Maße und Materie zur Erscheinung zu bringen?

    Bei unseren Begegnungen mit den ästhetischen Welten dieser Ausstellung nehmen wir das Wort von seinem griechischen Ursprung her als wahrnehmen wahr und machen uns mit allen Fähigkeiten unseres sinnlichen Spürens, unseres Fühlens und Denkens auf den Weg durch die Galerie.

    Beim Eintreten zieht eine kleinere Arbeit zwischen großen und farbmächtigen mit ihrer Leichtigkeit und Heiterkeit unseren Blick auf sich („Dancing in the street“): eine Kalligraphie tanzender Pinselstriche in Gelb, Ocker, Siena und Schwarz auf hellem Grund, die – von feinen Lineaturen umzogen – den Schwung vermitteln, mit dem man die Stäbchen aus Buche oder Schafgarbe wirft, die im Zusammenfall zu Schrift und Sprache werden und Bedeutung tragen.

    Tragend für die Idee „Infinity“ ist das Titelbild der Einladung, dessen Licht frisch getünchte antike Mauern in Ringen vergoldet und ragende, von Kerzenruß und Weihrauch gedunkelte Kathedralensäulen mit dem geheimnisvollem Funkeln farbiger Fenster versieht.

    Dazwischen betonen intensiv rote Akzente die durch alle Epochen hindurch waltende sizilianische Leiblebens- und Liebeslust in „Ragusa“.

    Im „späten Sommer“ daneben hängen braunviolette Streifen und Spiralen wie leise schaukelnde Traumfänger durch die letzte Wärme und die Reife vor der Ernte.

    Gegenüber lagern Magmahorizonte und züngelnde Brände zwischen alt-erstarrter Lava und wehenden Ascheregen, die der Kompaktheit der Geschicht-Sedimentation eine zart gestrichene Oberfläche verleihen, als erzählte ein indianischer Federteppich von der feurigen Genese und Existenz eines Planeten, vielleicht die des unseren, vielleicht die des Mars, den der Helikopter „Ingenuity“ erforschte, dessen Namen das Gemälde bekam.

    Mit den vielen übereinander liegenden Lasuren, die die Urgründe durch das Relief hindurchschimmern lassen, erzeugt Ernst-Martin Heel uns heranziehende Perspektiven, die in der Annäherung einen zunehmenden Sog entwickeln.

    Gleichzeitig veranschaulicht er so den ewigen Wandel, dem alles unterliegt und aus dessen Kontinuum wir immer nur Momente festhalten können, in denen uns die Größe des Ganzen und unsere Teilhabe daran bewusst werden.

    Auch im zweiten Raum kombiniert der Künstler ältere und neue Exponate, lässt wechselseitige Kontraste und Korrespondenzen wirken, wie die Blauspur, die sich durch die Ausstellung fortsetzt.

    Diese Farbe, die wir als die des Himmels, der Meere und Seen kennen, deren Substanzen eigentlich transparent sind und mithin unsichtbar, dieses Blau gilt der Transzendenz, dem uns Überschreitenden, Reingeistigen, Göttlichen.

    Kraftvoll bilden Stufen zwischen Indigo und Kobalt auf weißem Grund „Silhouetten“, eine Staffelungen von Skylines an Flüssen, die zugleich an Formationen nie vernommener Orgelrohre erinnern, an die aufschießenden Spitzen von Frequenzen, deren oszillierend-dröhnende Töne wir im Betrachten zu hören meinen.

    Nicht weniger suggestiv berührt uns das „Idol“ mit seiner Rotation aus einem hellen Mittelpunkt, der uns vielleicht Zugang gewährte zu dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, wenn sich der Verschluss der Linsenoptik ganz öffnete.

    Eine Wiederaufnahme dieses Sujets finden wir in dem diesjährig entstandenen „Am Anfang“, der sich zwischen dem Finsteren des Chaos und dem Licht des geometrisch-weißen Nichts hervordreht als allmähliche Expansion des Alls.

    Und dann stürzt und strömt der „Katarakt“ strudelndes, sprudelndes, spritzendes, quirlendes, flirrendes, flimmerndes Wasser – Quell des Lebens und Symbol seiner Unvergänglichkeit in allen Transformationen.

    In den bewegten Dimensionen dieser Werke spricht die expressive malerische Gestik Ernst-Martin Heels aus den abrupten Ansätzen und energischen Ausziehungen der Pinsel und Rakel, die durch eine spezielle Wischtechnik mit verschiedenen Textilien unterstützt werden.

    In den allmählichen Trocknungsprozess der pastosen Topographien gibt der Künstler durch Ritzungen zusätzliche Effekte, während er die Leinwand unter feineren Übermalungen als Textur zur Geltung bringt.

    Die Verläufe der mit Terpentin verdünnten Farben, deren Richtung durch Drehung der Formate variiert wird, erzeugen jene faszinierenden Rinnsale, deren Dynamik viele Motive bestimmt.

    Auf der schwarzen Wand zieht uns die schwindelnde Magie der verwunschenen Höhlen von „Tarawana“ an, mit deren niederfließenden Stalaktiten wir durch die gotischen Gänge eines gigantischen grünenroten Korallenpalastes gleiten, über dessen hohe Tore und Türme ein Schwarm weißer blauschattiger Meerestiere kreist.

    Ein Pendant dazu finden wir in der oberen Etage im „Azur“ (2007) in den wir inmitten der dunklen See in eine hell gleißende Unterwasserstadt versinken, die von Schneckenhaus- und Ammonitenkuppeln gekrönt wird.

    Ernst-Martin Heel lässt sich von vielen Impulsen inspirieren, unter anderem von Musik und Literatur, die ihn zu einer Hommage an „Diotima“ veranlasste, an die Seherin und Philosophin, die Sokrates, so berichtet er im platonischen Dialog „Symposion“, über den Eros aufklärt als die Liebe zu dem Schönen und als Vermittler der Weisheit.

    Ein dunkles Kelchsymbol für das ewig Weibliche, Hinanziehende und eine darin gebettete Herzform bestimmen die Mitte, um die ein Kranz starker Emotionen zu vibrieren scheint, die auch spätere Dichter und Denker in den Bann dieser Frau zogen.

    Einer war Friedrich Hölderlin, der seiner Vielgeliebten unter dem Namen Diotimas in dem Roman „Hyperion“ ein Denkmal setzte. Sein berühmtes Gedicht „Hälfte des Lebens“ ist titelgebend für die rottonige Arbeit, in der die Rhythmik des Textes und seine lyrischen Bilder in eine Komposition der Formen übertragen wird, vor allem das abschließende Klirren der Fahnen.

    Aber, sehr geehrte Damen und Herren, unser Rundgang schließt an dieser Stelle nicht, sondern beginnt aufs Neue mit Ihren weiteren Entdeckungen der Unendlichkeit, zu denen der Künstlers uns mit dem lebhaften Reichtum seiner abstrakten Werke alle Freiheit der Imagination schenkt.

    Schwarzbachgalerie Wuppertal, 24. Oktober 2021

    ©20121 Dr. Jutta Höfel